23.06.2015 14:49

Bibel spirituell gelesen – jüdisch und christlich

Die Bibel aus verschiedenen Blickwinkeln

Die Bibel muss kein Buch mit sieben Siegeln bleiben! Leider aber erscheint sie vielen Menschen unverständlich. Das hängt damit zusammen, dass oft nur einzelne Ausschnitte gehört und gelesen werden, ohne den Kontext zu beachten. Andere Menschen wiederum lesen die Bibel mit einer falschen Brille: Die Bibel ist für sie ein Geschichtsbuch oder eine Sammlung ewiger Wahrheiten. Gewisse Teile werden als naturwissenschaftlichen Bericht über die Entstehung der Welt gelesen und andere als Gesetze und ethischen Anweisungen, die unveränderlich sind, weil sie von Gott kommen. All diese Zugänge erfassen eine Teilwahrheit. Diese Annahmen und Erwartungen verstellen schliesslich auch den Blick. Die Bibel ist nämlich zuerst eine Sammlung von verschiedenen Büchern, eine kleine Bibliothek, die von einer Glaubensgemeinschaft zusammengestellt wurde, weil sie in diesen Texten Gottes Wort aufscheinen sieht. Es gilt also die Heilige Schrift spirituell und theologisch, als existentiellen Anruf Gottes zu lesen. Daher bietet das Lassalle-Haus seit Jahren immer wieder Wochenenden an, um die Bibel spirituell zu lesen.

Die Entstehung verstehen

Es ist entscheidend zu sehen, dass die Bücher der Bibel sehr unterschiedlich sind. Die Heilige Schrift enthält Mythen und Gedichte, Gebete und Novellen, Gleichnisse und Rechtstexte, Geschichtsbücher und Briefe etc. Ihre Entstehung und vor allem die Vielfalt der Sprachformen zu verstehen, ist nützlich und hilfreich, weil Gott eben durch das Menschenwort spricht. Menschenwort und Gotteswort sind kein Gegensatz.

Die Bibel ist aber auch untrennbar mit der Glaubensgemeinschaft verbunden, die diesen Kanon von Büchern als heilig und als Wort Gottes anerkennt. Seit Beginn hat diese Gemeinschaft die biblischen Bücher auch immer wieder neu interpretiert. Jede Generation und jede Epoche hat das Recht und die Pflicht, sich frei und kreativ mit diesen Texten auseinanderzusetzen und darin neue Aspekte von Gottes Offenbarung zu entdecken. Die Hebräische Bibel wird auf diese Weise bis heute von Juden und Christen gelesen. Sie ist Heilige Schrift für zwei Glaubensgemeinschaften.

Psychologie, Chassidismus und Kabbala

Die überraschende Aktualität der Texte wird gerade dann erlebt, wenn Christen entdecken, wie Juden die Texte lesen und umgekehrt. Mit meinem Jerusalemer Freund Gabriel Strenger zusammen freue ich mich daher jedes Jahr darauf, gemeinsam ein Wochenende lang biblische Texte zu lesen. Dieses Jahr laden wir zusammen ein, die Offenbarung Gottes am Sinai und die zehn Gebote neu zu erschliessen – er aus jüdischer und ich aus christlicher Perspektive. Als Therapeut bringt Gabriel psychologische Interpretationen mit, als Jude aber auch chassidisches und kabbalistisches Wissen. Meinerseits wiederum ist es ein Anliegen, sich von der christlich-spirituellen Tradition inspirieren zu lassen, wenn wir auf die Texte des Buches Exodus schauen. Der Auszug aus Ägypten und die Gabe der Tora am Sinai sind auch eng damit verbunden, was Christen an Ostern und an Pfingsten feiern, denn die Neutestamentlichen Texte schreiben die Texte des Alten Testaments weiter. In ihrer Tradition lebte schliesslich Jesus von Nazareth. So ist eine gemeinsame jüdische und christliche Lektüre überaus inspirierend.

Wer sich bereits etwas in die Materie einlesen möchte, findet in meinem Aufsatz «Im Hier und Jetzt», der in «Bibel heute» 4/2013 erschienen ist, bereits einige Denkanstösse. Oder noch besser: Nehmen Sie sich im August ein Wochenende Zeit, um mit uns die Bibel spirituell zu lesen.

Christian Rutishauser

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