01.05.2014 13:05

Impuls zum Master-Lehrgang "Spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess" von Lehrgangsleiter Prof. Dr. Ulrich Winkler, Uni Salzburg

Lassen wir uns irritieren!

Am Sonntag hatte ich unserem Pfarrer ein Büchlein von Gottfried Bachl geschenkt und ihm dabei schmunzelnd gesagt, das sei nichts für Schwächlinge. Denn diese Texte verunsichern. Als ich anschliessend im Gasthaus davon erzählte, wurden leidenschaftlich Meinungen ausgetauscht. «Wenn ich ein Buch lese, will ich doch nicht verunsichert werden!» Oder: «Ich will keine Veranstaltung besuchen, um mich irritieren zu lassen. Ich gehe doch hin, um mein Wissen zu vertiefen!» – Gehört die Bereitschaft zur Irritation zu den spirituellen Tugenden?

Paul Tillichs Diagnose von Ende der 1960er Jahre bleibt brisant: «Viele Menschen […] fühlen sich jeder konkreten Religion fern, gerade weil sie die Frage nach dem Sinn ihres Lebens ernst nehmen. Sie glauben, dass ihr tiefstes Anliegen in den vorhandenen Religionen nicht zum Ausdruck gebracht wird, und so lehnen sie Religion ab „aus Religion“.» Man könnte auch sagen, viele lehnen Religion aus spirituellen Gründen ab.

Diese Erfahrung habe ich in den letzten Jahrzehnten vielfach mit Menschen gemacht, nicht zuletzt beim Leiten des Universitätslehrgangs «Spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess». Aus persönlich gut nachvollziehbaren Gründen sind Menschen irre geworden an ihrer religiösen Sozialisation, am kirchlichen Glauben, und sie haben sich ernsthaft auf die Suche gemacht nach dem, was uns laut Tillich «unbedingt angeht». Aufgrund meiner Erfahrung ist es keineswegs so, dass man es sich leicht macht und sich nach Belieben wie in einem Supermarkt an den spirituellen Angeboten bedient. Vielmehr würdige ich die grosse Ernsthaftigkeit, mit der viele Zeitgenossinnen und -genossen auf der Suche sind.

Über biografische Enttäuschungen hinaus lässt sich ein Auslöser der europäischen Aufklärung reproduzieren, nämlich das verheerende Gewaltpotenzial der Religionen: damals die Ausrottung fast der Hälfte der Bevölkerung im Dreissigjährigen Krieg und heute der religiöse Fundamentalismus. Gut verstehen kann ich alle, die sich aus dem Staub machen, oder die nach einer Spiritualität suchen, die auf den wesentlichen Kern aller Religionen ausgerichtet ist. Dieses religiöse «Leben in der Dimension der Tiefe» (Tillich) ist zu einer attraktiven Alternative zum Leben in den verfassten Religionen geworden. Das verdient meinen uneingeschränkten Respekt.

Spiritualität enthält Herausforderungen, sie ist kein feiner Pudding, der sich süss und nur bejahend über das Leben ergiesst. Tillich spricht von einer leidenschaftlichen Suche, von unbedingtem Ergriffensein und tiefer Erschütterung: «Religiös sein bedeutet, leidenschaftlich nach dem Sinn unseres Lebens zu fragen und für Antworten offen zu sein, auch wenn sie uns tief erschüttern.» Tillich hatte dabei die existenziellen Fragen des Lebens im Blick.

Darüber hinaus weiss ich von vielen, die den Mut aufbringen, sich erneut der Auseinandersetzung zu stellen. Religionen sind voll von Brüchen, vieles passt nicht zusammen, ist widersprüchlich und unverständlich. Religionen sind eine Zumutung. Sie unterscheiden sich gerade darin von Ideologien, die das Ziel so genau kennen wie die Wege, es zu erreichen. Auch spirituelle Schulen neigen mitunter zu Weltformeln und Allerklärungsmodellen der gesamten Wirklichkeit, zu sicheren Methoden und genau definierten Zielen.

Gute Religionen und religiöse Traditionen hingegen sind für Überraschungen gut, für das Unvorhergesehene, das man sich nicht einmal erträumt hat. Durch eigene Lebenserfahrung und Bildung haben wir viel Wissen gesammelt, und Religionen haben das Zeug, festes Wissen wieder zu verflüssigen, starres Wissen aufzubrechen.

Viele Menschen, nicht zuletzt aus dem Universitätslehrgang, haben mich mit solchen Erfahrungen beschenkt: Sie haben sich irritieren lassen, waren bereit, den Dialog mit den religiösen Traditionen neu zu suchen, sei es in der theologischen Arbeit oder im praktischen Erlernen spiritueller Übungswegen. Kaum jemand tut dies ohne erneute Auseinandersetzung mit seiner meist christlichen Herkunftstradition. Viele haben mich beschenkt mit den Früchten dieser Irritationen, mit den Bruchstücken und Fragmenten, die so vieles offen lassen und öffnen.

Diese Erfahrungen erinnern mich an Jesus, der seine Zeitgenossen offensichtlich irritiert hat. «Er ist verrückt» (Mk 3,21), sagen die Seinen, und er hat sich ver-rücken lassen, berühren lassen von den Menschen. Es jammerte ihn das Leid der Menschen (Mt 9,36). Er redete so, dass er sogar seine Jüngerinnen und Jünger verrückt machte und selbst die verbliebenen engsten Vertrauten vor die Wahl stellte: «Wollt auch ihr weggehen?» (Joh 6,67). Dieses Jesus-Wort hat mich berührt wie kaum ein anderes. Jesus schwört niemanden ein, er gibt seine Botschaft der Freiheit preis. Und er hat uns damit überrascht, dass am Ende des Lebens nicht das Endgültigste auf Erden, der Tod, steht, vielmehr die Zusage: Wer auf den ganz Verrückten sein Vertrauen wirft, der/die lässt sich verrücken und geht vom Leben ins Leben.

Weiteres zum Lehrgang www.spirituelletheologie.ch

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