30.05.2018 09:50

Theres Spirig-Huber im Gespräch mit Bibelwissenschafter Ludger Schwienhorst-Schönberger

Ist Jesus ein Mystiker?

Univ. Prof. Dr. Ludger Schwienhorst-Schönberger ist Bibelwissenschafter und im Lassalle-Haus als Dozent im Rahmen des Universitätslehrgangs «Spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess» engagiert. Er hat seit Juni 2007 den Lehrstuhl am Institut für Alttestamentliche Bibelwissenschaft der Universität Wien inne.

Theres Spirig-Huber, Lehrgangsbegleiterin, hat ihm zur Mystik Jesu ein paar Fragen gestellt.


T.S.: Ludger Schwienhorst-Schönberger, Sie sind Bibelwissenschafter. Ist Jesus ein Mystiker? Und warum ist das für uns heute in Westeuropa eine wichtige Frage?

L.S.: Mystik ist heute ein Thema allen ersten Ranges. Auch im Westen suchen viele Menschen nach geistlicher Erfahrung. Mit einem oberflächlichen Leben geben sie sich nicht mehr zufrieden. Selbst wenn alle unsere Bedürfnisse befriedigt sind, bleibt eine Sehnsucht. Es stellt sich die Frage: Wo kann sie gestillt werden?

T.S.: Und die still’ ich jetzt bei Jesus, oder?

L.S: Nach christlichem Verständnis ist Jesus der Weg, die Wahrheit und das Leben. Wer sich ihm anvertraut, findet den Weg zum wahren Leben.

T.S.: Aber was heisst denn nun Mystik, Jesus ein Mystiker? Was ist daran relevant für uns heute?

L.S: In ihm ist Gott in der Welt gegenwärtig. Er ist die Gegenwart Gottes auf Erden, „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott“, wie es im Glaubensbekenntnis heißt. Das erste Wort, das Jesus im Johannesevangelium spricht, ist eine Frage: „Was sucht ihr?“ Die beiden Jünger, die ihm folgten, fragten: „Meister, wo wohnst du?“ Jesus antwortete: „Kommt und seht!“ (Joh 1,38-39). In diesem kleinen Dialog spiegelt sich die Grundstruktur christlicher Mystik. Sie ist eine Einladung: Kommt und seht!

 

T.S.: Kommt und seht: Und wie mach’ ich das denn jetzt, wenn ich da kommen und sehen möchte? Können Sie uns einen Faden in die Hand geben, wie ich mich denn Jesus als Mystiker nähern kann?

L.S.: Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Eine ist, die Heilige Schrift regelmäßig zu lesen, in die Stille gehen und zu hören. Es ist der kontemplative Weg. Es gibt aber auch den Weg über das Tun. Beide schließen sich nicht aus, sondern ergänzen und bedingen einander. Es geht um eine meditative Präsenz in allem, was wir tun. Das bedarf der Übung. Auch im Gottesdienst geht es letztlich um diese Präsenz. Sie ist zugleich ein Weg der Wandlung. Es geschieht etwas in uns und mit uns und wir wissen oft nicht, woher es kommt: „Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht“, sagt Jesus im Johannesevangelium (3,8).


I: Dorothee Sölle hat mal geschrieben, es brauche eine Mystik mit offenen Augen. Was ist denn nun, noch mal gefragt, mystisch oder was ist an dieser Mystik mit offenen Augen mystisch? Was ist damit gemeint?

L.S.: Sölle warnt davor, sich in den inneren Raum der rein persönlichen Frömmigkeit einzuschließen und darin zu verharren. Das wäre in der Tat ein Missverständnis von Mystik. So wichtig der regelmäßige Rückzug aus dem Lärm des Alltags in das „stille Kämmerlein“, von dem auch Jesus spricht (Mt 6,5), ist, so ist nach christlichem Verständnis Mystik in der Tat eine „Mystik der offenen Augen“. Sie sieht aus der Tiefe geistiger Präsenz die Welt, wie sie in Wahrheit ist. Und dazu gehören auch Not, Krankheit und Tod. Und sie ist bereit zu helfen, zu heilen und Dämonen auszutreiben, so wie Jesus es getan hat und wozu er seine Jünger beauftragt hat (Mk 6,1-12).


I: Geht es in der christliche Mystik heute darum, sich Jesus zu nähern? «Kommt und seht», könnte das heissen, ich übe ein mit den Augen Jesu? 

L.S.: Durchaus, ja. Letztlich geht es darum, eins mit ihm zu werden.

 

I: Eine letzte Frage. Jesus ist ja ein Mann: Gibt es Unterschiede zwischen der Mystik von Frauen und der Mystik von Männern?

L.S: Schwer zu sagen. Eine traditionelle Antwort würde lauten: Frauenmystik ist stärker affektiv ausgerichtet. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das wirklich stimmt. Denken Sie an die gefühlsbetonte Mystik eines Bernhard von Clairvaux. Zu fragen wäre außerdem, ob diese Unterschiede, wenn es sie denn gibt, in der menschlichen Natur begründet oder weitgehend gesellschaftlich vermittelt sind. In jedem Fall spielen Frauen in der Geschichte der christlichen Mystik eine bedeutende Rolle, vor allem seit dem Mittelalter. Denken Sie an Hadewijch von Antwerpen, Mechthild von Magdeburg, Marguerite Poret, die Frauen von Helfta, Caterina von Siena, Juliana von Norwich, Teresa von Avila und viele andere. Einige von ihnen sind in der katholischen Kirche sogar zu Kirchenlehrerinnen ernannt worden. Sie repräsentieren eine bedeutende Tradition christlicher Mystik und Theologie.

 

Der nächste Universitätslehrgang „Spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess“ startet im Oktober 2021. Weitere Details

 

Copyright Bild: Ludwig Spirig-Huber

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