08.11.2024 15:44
von Leslie Arnold

Die Tragödie in Gaza als Teil einer globalen Konfliktlinie


Gönnersalon im Lassalle-Haus Bad Schönbrunn mit dem Israel-Experten Prof. Dr. Christian Rutishauser SJ

Volles Haus beim traditionsreichen „Gönnersalon“ 2024 im Lassalle-Haus Bad Schönbrunn: Unter dem Titel „Ein Jahr nach dem 7. Oktober“ zeichnete der Israel-Experte Christian Rutishauser ein differenziertes Bild der Situation im Nahen Osten. „Der Konflikt ist unlösbar“, analysiert der Jesuit und Luzerner Judaistik-Professor – und skizziert dennoch ein Szenario nach Schweizer Vorbild.

Zur Begrüssung betonte Direktor Toni Kurmann das Selbstverständnis des Lassalle-Hauses als ein Zentrum für Spiritualität, Dialog und Verantwortung: „Eine Spiritualität, die sich nicht aktiv für Frieden und mehr Menschlichkeit einsetzt, bleibt am Ende Egoismus.“


In diesem Kontext spiele auch der Gönnerverein ein wichtige Rolle, der seit 25 Jahren das Programm begleitet und unterstützt: „Ohne unsere Freundinnen und Freunde wäre vieles nicht möglich“, sagt Kurmann. Die grösste Stärke des Hauses seien die vielen persönlichen Verbindungen: „Menschen treffen auf Menschen, denen sie sonst nicht begegnen würden. Und führen Gespräche, die sie sonst nicht führen würden.“

„Spirituelle Bildung ist kein Nice-to-have“, griff der Referent Christian Rutishauser den Ball auf: „Es ist die Grundlage dafür, dass wir auch in Extremsituationen noch halbwegs menschlich agieren. Hier sind die Kirchen gefragt.“


Rutishauser war selbst Bildungsdirektor des Lassalle-Hauses und ist dort regelmässig als Kursleiter präsent. Der jüdisch-christliche Dialog ist eines seiner Lebensthemen: Seine Expertise ist international gefragt.


Wer kämpft im Vorderen Orient gegen wen? Worum geht es eigentlich? Und was hat das alles mit uns in Europa zu tun? Zum Einstieg in seinen Vortrag warnte Christian Rutishauser eindrücklich vor der Versuchung, vom Schweizer Canapé aus Weltkonflikte erklären oder gar lösen zu wollen: „Selbstgerechte Schwarzweiss-Zuschreibung ist nur eine weitere Verletzung aller Menschen, die unmittelbar betroffen sind.“


Eindringlich beschrieb Christian Rutishauser dem hoch konzentrierten Publikum im Lassalle-Haus die menschliche Dimension der Tragödie. In Gesprächen mit jüdischen Freunden und auch palästinensischen Christen werde ihm immer wieder die eigene Ohnmacht vor Augen geführt: Alle Seiten seien zutiefst traumatisiert, frustriert und enttäuscht. Während sich viele Palästinenser schutzlos ausgeliefert fühlen, spüren Israelis Kälte und Anteilslosigkeit und sehen sich von der Weltgemeinschaft im Stich gelassen. Hinter der Instrumentalisierung des Konflikts verschwinden die menschlichen Schicksale.


Die ungeheure Komplexität des Nahost-Konflikts verbiete einfache Antworten: „Abschliessende oder endgültige Lösungsideen führen niemals zum Ziel“, sagt Rutishauser und ermutigt zu kleinen Schritten der Humanität – diese aber umso konsequenter zu gehen: „Allgemeine Appelle helfen niemandem weiter. Wir sind gefordert, präzise Antworten auf konkrete Detailprobleme zu finden.“


Mit dem „akademischen Blick eines Intellektuellen“ skizzierte Christian Rutishauser jüdische Geschichte und Selbstverständnisse seit Napoleon. Vor diesem Hintergrund identifiziert er Gaza als Teil einer globalen Konfliktlinie zwischen identitären und offenen Gesellschafts-Entwürfen: „Die Hamas ist wie der Islamische Staat – beide kämpfen gegen den Westen.“


„Es braucht eine klare Trennung zwischen Staat und Religion“, glaubt Rutishauser: Gerade Kirchen und Glaubensgemeinschaften seien im Bereich der Zivilgesellschaft gefordert und hätten grosse Aufgaben. „Wer Spiritualität und Glauben mit Bildung stärkt, macht die Zivilgesellschaft stark.“


Das gelte auch in der islamischen Kultur: „Die grosse arabische Bildungstradition darf nicht in der Gewalt der Extremisten bleiben.“


Mit dieser Perspektive könnten bei aller Unterschiedlichkeit die „gemeinsamen Quellen“ wieder fruchtbar werden, hofft Rutishauser. Eine Zweistaatenlösung sei völlig illusorisch, statt dessen könne in ferner Zukunft ein Kantons-Modell ähnlich wie in der Schweiz funktionieren: Ein Miteinander in stolzer Eigenständigkeit, mit regionalen Parlamenten und Verwaltung – ergänzt durch übergeordnete Aufgaben wie etwa dem Militär.

Wirtschaftliche Anreize seien dabei als Hebelwirkung nicht zu unterschätzen, meint Rutishauser augenzwinkernd: „Sobald es ums Handeln und Geschäfte machen geht, bekommt man sie alle!“
(LH)


Bild Vorstand Gönnerverein:
Margarete Stadlin, Christina Michel; P. Prof. Dr. Christian Rutishauser SJ, P. Toni Kurmann SJ (Credit: Stadlin)

 

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