06.01.2020 13:41

Interview mit Dr. Giovanni Maio

Giovanni Maio, Arzt und Medizinethiker, prangert die Missstände in unserem Gesundheitswesen an und möchte die Medizin wieder mehr als sozialen Bereich und weniger als Wirtschaftszweig sehen. Er spricht am 28. Januar an der Tagung «Medizin und Spiritualität» im Lassalle-Haus.

Dr. Maio, wenn jemand zum Arzt geht, wird er immer mehr als Kunde für diverse medizinische Anwendungen angesehen. Was ist aus dem Patienten geworden?

Der Begriff des Kunden ist einfach ein grundlegend falscher für die Medizin. Denn in der Medizin geht es doch nicht um eine Geschäftsbeziehung, bei der man einen Tausch vornimmt: ich gebe Dir Geld und Du mir eine Ware. So funktioniert Medizin nicht, denn der Patient ist niemand, der etwas kaufen möchte, sondern der sich Hilfe erhofft. Der Patient ist in einer Situation der Angewiesenheit, in der er geschützt werden muss vor falschen Angeboten, vor Übervorteilung, vor Ausbeutung.

Das ist aber wie bei jedem anderen Geschäft auch…

Ja, der Kunde muss immer auf der Hut sein, ob er nicht ein schlechtes Geschäft macht. Ein solches Denken darf sich in der Medizin nicht verbreiten, denn mit so einem Denken wäre der Patient einfach schlecht bedient. Der Patient muss darauf vertrauen können, dass man seine Not nicht ausnutzt und dass man ihm nur das anbietet, was wirklich gut für ihn wäre. Anstelle einer Geschäftsbeziehung ist es eher eine vertrauensvolle Sorgebeziehung, die das Eigentliche der Medizin ausmacht. Der Arzt ist kein Verkäufer, sondern ein professioneller Helfer, und der Patient kein Käufer, sondern ein zwar freier aber doch zugleich auch angewiesener Hilfesuchender.

Die meisten haben einen medizinischen Beruf gewählt, weil sie nahe am Menschen sein wollten. Heute aber werden die Ärzte belohnt, die möglichst viel machen – Untersuchungen, Abklärungen, Scans – und möglichst viele Patienten in kurzer Zeit behandeln. Bleibt die Arzt-Patientenbeziehung auf der Strecke?

Durch die ökonomischen Anreize haben wir eine fliessbandartige Abfertigung von Patienten als Ideal der Medizin etabliert, und das ist verhängnisvoll, weil auf diese Weise das Gespräch als vermeintlich überflüssig gilt. Der Patient wird auf seine objektiven Parameter reduziert und seine Befindlichkeit für unerheblich erklärt, weil es nur um die Behandlung von Befunden geht.

Der Patient aber wird eine solche Medizin als eine entfremdete Medizin wahrnehmen, und deswegen wendet sich eine durchökonomisierte Medizin gegen die Interessen des Patienten und zugleich gegen die Interessen der Pflegenden und Ärzte.

Ihr ursprüngliches Ideal erscheint in der aktuellen Medizinwirtschaft nicht mehr realisierbar. Daher müssen wir die Durchökonomisierung der Medizin stoppen und Medizin nicht als Wirtschaftszweig begreifen, sondern als einen sozialen Bereich, in dem es nicht um Absatz und Profit geht, sondern um soziale Werte wie Zuwendung, Beistand, Sorge.

 

«Auf den Menschen hören – für eine Kultur der Aufmerksamkeit in der Medizin» heisst eines ihrer Bücher. Es scheint aber, dass die neuen technischen Möglichkeiten vor allem Ein-Blicke in immer tiefere Dimensionen gewähren. Vom Hören oder Zuhören ist immer weniger die Rede…

Ja, weil der modernen Medizin im Grunde ein mechanististisches Menschenbild zugrunde liegt, durch das die Heilberufe lernen, dass es nur um das Vermessen des Patienten geht und nicht um das Verstehen seiner je individuellen Not. Die moderne Medizin lernt nur noch, herauszufinden, was der Patient hat, aber sie hat verlernt, darauf zu hören, wer der Patient ist. Deswegen spielt das Hören so eine geringe Rolle, weil die Medizin sich darauf beschränkt, Befunde zu behandeln, ohne sich wirklich für den Menschen interessieren zu wollen, der von dem Befund betroffen ist.

 

Dr. Giovanni Maio spricht am 28. Januar 2020 an der Tagung Medizin & Spiritualität, die im Lassalle-Haus stattfindet.



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