21.01.2019 16:39

Situationen aus dem Alltag, in denen Focusing helfen kann

Focusing hilft im Alltag

Focusing ist die Entdeckung der Vielschichtigkeit, des Informationsreichtums und der Präzision in den eigenen Gefühlen, Erlebensweisen und im körperlichem Gespür. Wir modernen Zeitgenossen in unseren vollgepackten und eiligen Alltagen haben häufig keine Tuchfühlung und kaum eine Ahnung davon, wie tief verankert und reich an Zusammenhängen jeder erlebte Moment ist. Im Focusing lernt man, für diesen Reichtum eine Sprache zu finden, der das Erlebte nicht beschneidet, sondern aufblühen lässt, so dass wir uns selbst und uns gegenseitig viel verständlicher werden.

Anhand von Alltagssituationen zeigen wir Ihnen die Vorteile von Focusing konkret auf.

Situation der Eltern mit dem Teenager

Ohne Focusing

Paul: Mom - ich muss diesen Samstag im Fussball-Team einspringen.

Mutter: Was?? Wir hatten doch so lang abgemacht! Jetzt tust du wieder im letzten Moment die Pläne ändern!

Paul: Ich wusste das früher noch nicht! Die Anfrage kam gerade erst rein. Ich muss das machen.

Mutter: Wir haben uns doch alle das Wochenende freigehalten, deine Tante wird so enttäuscht sein! Du hättest das besser planen können! Das ist so enttäuschend!!

Paul: Hätte ich nicht!

Mutter: Doch, wärst du etwas organisierter, würden nicht immer solche Dinge passieren!

Paul: Der Ausflug ist doch nicht so wichtig, wir können den doch auch später machen! Ich kann da nicht nein sagen zu dieser Anfrage.

Mutter: Alles andere ist wichtiger, nur nicht was wir abmachen! Man kann sich einfach nicht auf dich verlassen, immer wird alles verschoben!!!!

Paul: Dieses Spiel ist aber wichtig!!

Mutter: Immer sind deine Pläne das Wichtigste.

Paul: Ich kann doch gar nichts dafür! Immer musst du auf mir herumhacken!

(Paul geht ...., lässt die Mutter stehen und schliesst laut die Tür seines Zimmers)

Mit Focusing

Paul: Mom – ich muss diesen Samstag im Fussball-Team einspringen...

Mutter: Was??? Wir hatten das doch so lang abgemacht....!

Paul: Ich wusste das früher noch nicht! Die Anfrage kam gerade erst. Ich muss das machen.

Mutter: „Lass uns später darüber sprechen“.

Die Mutter zieht sich zurück, denn sie spürt wie ein Ärger in ihr aufsteigt, der etwas zu stark ist. Sie nimmt sich Zeit, diesem Gefühl nachzugehen – ein paar Augenblicke. Sie setzt sich hin, wie sie es gelernt hat und begrüsst zunächst, was sie wahrnimmt: ja, da ist eine Art Beengung spürbar. Sie kennt dieses Gefühl. Sie hat es schon bei einem früheren Focusing bemerkt. Es geht dabei gar nicht nur um Paul. Aber er kann es auslösen, und dann reagiert sie zu stark. In der Beengung sitzt das ungute Gefühl, dass ihre Planung nicht ernst genommen wird, vor allem, dass sie selbst nicht ernst genommen wird. Das Gefühl sitzt im Solarplexus, es äussert sich auf einer Weise, die nicht leicht zu beschreiben ist – als ob jemand sagt: „niemand nimmt dich ernst“. Sie spürt dem Gefühl weiter nach, beschreibt es leise, und bemerkt, wie so etwas wie Mitgefühl dabei in ihr aufkommt. Sie merkt, wie viel Schweres von früher dieses Gefühl mitträgt. Es hat fast gar nichts mehr mit Paul zu tun...

Nun kann sie zu Paul gehen und ein anderes Gespräch führen: „Wir hatten diesen Ausflug schon lang geplant und alle hatten sich gefreut. Kannst du nicht sagen, dass es dir dieses Mal nicht passt?“

Paul: „Nein, das kann ich nicht. Dann fragen die mich nicht mehr an. Ich habe schon mal abgesagt, die nehmen mich dann als Ersatz-Spieler nicht mehr ernst.“

Nun versteht sie, welche Sorge Paul treibt: nicht weil er ihre Planung oder sie nicht ernst nimmt, oder keine Lust auf einen Familienausflug hat, sondern weil er Angst hat, nicht mehr angefragt zu werden, und weil er befürchtet, nicht mehr ernst genommen zu werden als Spieler, kann er die Anfrage nicht ablehnen.

Nun kann sie seine Unsicherheit spüren.

Sie fragt: „Gibt es eine Möglichkeit abzuklären, ob dich jemand ersetzen kann, so dass du nicht befürchten musst, dass sie dich nicht mehr anfragen?“

Paul: „... ich weiss nicht. Ich glaube nicht....“

Mutter: „Also, du musst nicht unbedingt mitkommen, wenn so viel für dich auf dem Spiel steht. Aber wenn es eine Möglichkeit gäbe, wäre es schön für alle. Schau doch mal, ob sich was machen lässt....“

Paul geht in sein Zimmer, und sie hört, wie er bei einem Freund anruft und nachfragt.

Situation des Unternehmers

Ohne Focusing

Ein Unternehmer hat Investoren für eine neue technische Entwicklung eines umweltschonenden Windrads an Board geholt, die schon einiges an Kapital in seine Firma investiert hatten. Nun hat sich herausgestellt, dass einer seiner eigenen Buchhalter Gelder veruntreut hat, zudem, dass ein technisches Problem bei dem neuen Windrad aufgetreten ist. Weil der Buchhalter unter seiner Aufsicht geschah, fordern die Investoren, dass er es mit seinem eigenen Geld zurückzahlt. Die Sitzung ist äußerst angespannt. Alles Vertrauen ist verschwunden, alles, was er in den letzten Monaten aufgebaut hat, kaputt. Alle reden laut, niemand hört dem anderen mehr zu, man springt von einer Schlussfolgerung zur nächsten. Es wird kein Einverständnis erzielt. Schließlich wird eine nächste Sitzung in zwei Wochen anberaumt. Der Unternehmer kommt nach Hause. Er kann sich aus Sorge und Stress nicht auf seine Familie konzentrieren. Seine Frau ist unzufrieden, dass er fahrig ist und für die Kinder nicht da. Ihre Vorwürfe machen die Situation nicht einfacher. In der Nacht kann er nicht schlafen, und nimmt deshalb Schlafmittel. In der Früh geht es ihm so schlecht, dass er kaum aufstehen will. Er greift nach den Antidepressiva, die ein Doktor ihm schon mal verschrieben hat. Nun geht es etwas besser, aber er verabscheut sich selbst, dass er von diesen Mitteln immer abhängiger zu werden droht.

Mit Focusing

Der Unternehmer kommt nach Hause. Er kann sich aus Sorge und Stress nicht auf seine Kinder konzentrieren. Er hatte die letzten Monate durchgehend an der Entwicklung des Produktes gearbeitet – alles umsonst. Es fällt ihm der Kurs ein, den er letzthin mit seiner Frau besucht hat. Er fragt sie, ob sie mit ihm Focusing machen will. Sie willigt ein. Zuerst nimmt er sich Zeit, sich zu entspannen, so wie er es gelernt hat. Dann merkt er, dass er sich zwar im Brustbereich belastet fühlt, aber zugleich überraschend entspannt im Bauchbereich ist. Seine Frau hört nur zu. Das hilft ihm. Er merkt, dass für ihn die größte Herausforderung darin liegt, dass niemand wirklich zuhört, und dass er sich nicht verständlich machen kann. Seine Frau erwidert das, in seinen Worten. Nun bemerkt er, wie genau er sieht, wie das technische Problem entstanden ist und wie es zu lösen ist. Aber die anderen können seinen Gedanken nicht folgen, denn die Gruppendynamik, die die Investoren untereinander haben, verhindern es, dass sie wirklich zuhören - jetzt nach dem Finanzdebakel noch weniger. So werden das Problem und Verantwortungsbereiche falsch hin und her delegiert. Seine Frau hört weiter nur zu und sagt zurück. Während er sich immer besser konzentrieren kann, versteht auch sie seine Lage sehr viel genauer.

Ihm wird nun auch bewusster, wie viel gute Schritte er schon gemacht hat, wie viel er an Zeit und Energie in dieses Produkt gesteckt hat, weil er überzeugt davon ist, dass es funktionieren kann und es ein gutes Produkt ist. Es kommen Tränen in seine Augen, die aber nichts mit Trauer zu tun haben. Er spürt auf einmal wieder die Verbindung mit der Motivation, warum er das Produkt überhaupt entwickelt hat, und die Kraft, die damit einhergeht. Wenn das Produkt gut wird, kann er alles zurückzahlen. Das ist das Wichtigste. Damit wird ihm schliesslich klar: er wird so eine Art von Besprechung nicht mehr durchführen. Er muss das Gespräch mit jedem Investor einzeln suchen. Erst dann können sich alle wieder zusammensetzen. Er muss mit jedem einzelnen in aller Ruhe sprechen, und sich auf diese Gespräche sehr gut vorbereiten. Die Klarheit, die sich dadurch einstellt, lässt ihn ruhig werden. Er macht mit seiner Frau ab, dass die nächste Focusing-Session ihr gehört. Er braucht keine Mittel in der Nacht, und auch nicht am nächsten Tag.

Situation der Lehrperson

Ohne Focusing

Unterrichtsbeginn Deutsch als Zweitsprache für junge Menschen in Berufsintegrationsklassen, nach dem Unterricht im Bereich „Hotel- und Gastronomie“, gemeinsamen Kochen. Alle sitzen in einer U-Form an Tischen, packen aus, kleine Gespräche mit den Nachbarn in verschiedenen Sprachen. Es sind an die 17 Teilnehmende, junge Männer aus verschiedenen Ländern mit Fluchtgeschichte. Die Lehrperson steht am Lehrerpult wartet, bis alle ankommen und sich die Aufmerksamkeit sortiert. Abdul sitzt ihr gegenüber an der Rückseite. Er sieht sie an und sagt: „Beim Mathetest gestern habe ich nichts geschrieben. Ich habe eine Abschiebung bekommen. Warum soll ich noch was machen.“ Die Lehrperson räuspert sich. Sie weiss nicht, was sie sagen soll. Die anderen Schüler werden unruhig, fangen schon kleine Gespräche an. Gleich hat sie die Aufmerksamkeit der Klasse verloren. Hilflos sagt sie: „Das tut mir sehr leid......“ Dann wendet sie sich der Klasse zu, fühlt sich elend und kämpft den Rest der Stunde gegen die Unruhe im Klassenzimmer an.

Mit Focusing

Die Lehrperson sieht die Augen, den Blick. Der Blickkontakt ist wie eine Linie durch den Raum zu ihr. Traurigkeit. Überforderung. Hilflosigkeit. Die Gedanken rasen im Kopf, was man selbst bereit wäre zu tun, um Schüler vor einer Abschiebung zu bewahren. Wie reagieren, diesem und zugleich allen anderen Schülern gerecht werden. Was antworten, was sagen, was tun. Sie atmet ein und aus und zoomt eine Millisekunde ihre Aufmerksamkeit auf sich, auf die Frage, was sie jetzt hier tun kann. Sie ist eine geübte Focuserin. Sie spürt ihr Herz und ihre eigene Überforderung, sie spürt seine Traurigkeit und hält den Blickkontakt. Sie fühlt in der ganzen Überforderung eines ganz deutlich, dass sie ihn hier und jetzt, in dieser Situation nicht allein lassen will.

Sie sagt einfach: „Du konntest beim Mathetest gar nichts schreiben, weil du solche Sorgen hast, wegen deiner Abschiebung“. Er nickt und spricht weiter, wie sinnlos es für ihn ist, wie schlecht er schlafen kann, dass er Angst hat. Sie gibt es wieder, versucht auch das Widersinnige klar zu benennen: „Du musst dich fürs Lernen konzentrieren und du kannst dich mit der ganzen Angst gar nicht konzentrieren.“ Er hört zu. Sie sagt: „Das ist eine wirklich sehr schwierige Situation. Aber das was du lernst, gehört dir. Und mit einer Sprache lernst du immer auch eine neue Welt kennen. Wir wissen einfach nicht wie es weitergeht und was kommt, aber das was du lernst, kann dir auch niemand und nichts mehr nehmen.“ Er nickt, es scheint „zu passen“.

Andere Schüler melden sich zu Wort. Es beginnt ein Gespräch über Abschiebung, die Gründe, die Komplexität, die Ungerechtigkeit, die eigene Betroffenheit. Sehr starke, reflektierte Positionen, engagiert vertreten, trotz all der eigenen Unsicherheit. Die Lehrperson lässt alle zu Wort kommen. Organisiert die Reihenfolge, verweist darauf, sich aussprechen zu lassen. Gibt vereinzelt Gesagtes wieder. Versucht sicherzustellen : „Jeder darf sagen, was ihm wichtig ist. Es gibt hier kein richtig und falsch. Wenn es dir wichtig ist, dann ist es wichtig.“ Dann sagt ein Schüler ein bisschen genervt „jetzt lernen wir mal wieder.“ Die meisten nicken, kein Widerspruch. Frau Weber lacht, „Ok, lernen wir wieder“. Sie sieht Abdul an, er nickt, sie gehen zum geplanten Unterricht über. Passivkonstruktionen, wie sie in Kochrezepten vorkommen. Die Beteiligung und Konzentration ist hoch.

Situation des Psychiaters

Ohne Focusing

Ein Psychiater und Psychotherapeut hat Themen in seiner eigenen Beziehung. Seine Partnerin meint, dass er sich nicht gut auf seine Emotionen einlassen könne. Er selbst meint, er verstehe sich sehr gut. Er ist ein guter und sehr erfolgreicher Therapeut, der ein Team unter sich hat. Er weiß, dass er, wie er selbst sagt, mit sich selbst eher streng ist, und er kennt auch die Gründe dafür. Er berichtet, wie er nicht umhin kann zu grinsen, wenn andere Kollegen oder Körpertherapeutinnen etwa vorschlagen, sich selbst ein „Lächeln zu schenken“. Wie soll das gehen? Man lächelt andere an, wie soll man sich selbst anlächeln? Er kann anderen helfen, er kann sie mit seinem Lächeln ermutigen und auflockern, aber sich selbst zulächeln kann er nicht, an der Strenge mit sich selbst kann er nichts ändern.

Mit Focusing

Der Psychiater setzt sich zu seiner ersten Focusing Sitzung hin. Er wird nach einer kleinen Entspannungsübung eingeladen, was er gerade in der Mitte seines Körpers wahrnimmt. Es fällt ihm nicht schwer einen Druck in der Magengegend wahrzunehmen. Er kennt diesen Druck gut. Dieser begleitet ihn eigentlich dauernd. In der Focusing Sitzung exploriert er die Ränder des Drucks, die Lage, es fällt ihm nicht schwer, sogar eine dunkle Färbung des Drucks zu bemerken, schließlich bemerkt er auch seine eigene Haltung dazu: „Es stört. Es wäre besser der Druck wäre nicht da. Ich kann nichts Gutes daran finden.“ Auf die Frage, ob sich etwas verändert, während er so spricht, bemerkt er, dass sich der Druck verschärft auf einen akuten Schmerz hin, in der Mitte des Druck. Ob es möglich wäre, zu fragen, was den Druck schmerzhaft macht, entsteht eine lange Pause. Er kann die Frage nicht beantworten, aber es tut gut, sie zu stellen. Ob es möglich wäre zu fragen, ob der Schmerz etwas braucht, entsteht wieder eine lange Pause: „...irgendwie sanft gehalten zu werden“. Ist es möglich, den Druck sanft zu halten, so sanft wie einen verletzten Vogel etwa? Daraufhin stummes Nicken. Er sitzt versunken da. Lange Pause. Wie es sich nun in seinem Körper anfühlt? „....der Schmerz diffundiert nach außen hin, gibt nach. Das ganze Druckfeld fühlt sich verändert an. Auch die Farbe hat sich verändert, es ist jetzt heller.“ Am Ende der Sitzung, nachdem der Prozess rekapituliert wurde, bemerkt der Psychiater: „Ich habe das noch nicht erlebt, dass sich dieses Gefühl so spürbar verändern kann.“ Ich gebe ihm zu verstehen, dass das erst ein Anfang ist.

Situation der jungen Erwachsenen im Clinch zwischen Beziehung und Karriere

Ohne Focusing

Eine junge Frau ist wegen ihres Studiums an der Uni ihrer Wahl in eine andere Stadt gezogen. Aufgrund ihres Freund, der zu Hause geblieben ist, kommt sie am Wochenende oft nach Hause. Es wird alles etwas viel. Die Spannung zwischen dem Studium, dem Studienort, der Freundschaft. Ein einziges Knäuel. Sie glaubt, die Freundschaft beenden zu müssen. „Beziehung auf Distanz geht eben nicht. Das weiss jeder.“ Sie meint: „Ich werde ihm nicht gerecht, mir nicht gerecht, dem Studium nicht gerecht.“ Von diesen Überzeugungen geleitet, fasst sie den Entschluss, die Freundschaft zu beenden. Es kommt zu schwierigen und emotionalen Gesprächen mit dem Freund, in denen sich beide nicht verstanden fühlen. Die Situation verschlimmert sich. Sie brechen die Freundschaft ab, obwohl es beiden das Herz bricht. Sie können den Bruch nicht aufrechterhalten, und ein On und Off geht los, das beide frustriert.

Mit Focusing

Obwohl sie glaubt, dass sie die Freundschaft beenden muss, beschließt sie zuvor Focusing mit einer Freundin zu machen. Sie fühlt nun den Knäuel all dessen, was an dieser Situation schwierig ist. Es fühlt sich an wie ein Kloss im Hals. Die Freundin hört zu und wiederholt nur, was sie sagt. Sie bleibt eine Weile lang mit ihrer Aufmerksamkeit bei diesem Gefühl. Dabei merkt sie, wie groß der Stress in ihr ist, dass sie sich entwurzelt fühlt. Der Kloss im Hals wird noch schwieriger auszuhalten, aber sie bleibt dabei, ihn nur zu fühlen und zu beschreiben, was sie dabei alles wahrnimmt. Nun merkt sie: „Die Schwierigkeit hat damit zu tun, dass ich das Gefühl habe, nicht anzukommen. Ich komme nicht an, weil ich immer wieder wegfahre, zu ihm. Und wenn er kommt, bin ich nur für ihn da.“ Tränen kommen. Sie spürt, dass das Gefühl tiefere Wurzeln hat, es ist wie das Gefühl bei den häufigen Schulwechseln, die sie als Kind erlebt hatte. Es ist der gleiche Schmerz der Entwurzelung. Das macht die Situation so schwer. „Ich habe das Gefühl, als ob ich gar nicht hier bin. Und so schon die ganze Zeit – und bald ist das Studium dann vorbei, und ich war gar nicht hier!“ Obwohl sie die Belastung nun genau beim Namen nennen kann, gibt der Kloss im Hals nach. Nun merkt sie: „Ich bräuchte sehr viel mehr Zeit, hier anzukommen, diese Stadt zu meiner zu machen, ihr eine Chance zu geben.“ Lange Pause. Die Freundin wiederholt genau, was sie gesagt hat. Dann spricht sie weiter: „vielleicht könnte er mir helfen, diese Stadt mehr zu meinem Ort zu machen. Schließlich ist ja egal, wo wir uns treffen.“ Und weiter: „Das kann ich ihm erklären, das wird er verstehen...“ Mit großer Erleichterung wird ihr deutlich, dass sie die Freundschaft nicht beenden muss, sondern dass sich nur die Besuchsmuster ändern müssen. Der Prozess hat ihr ermöglicht, genau zu differenzieren, sich verständlicher zu werden und sich dadurch auch dem Freund gegenüber verständlicher machen zu können. Sie merkt, dass sie mit ihm diesen Schmerz teilen kann, und dass er ihr helfen kann, ihn zu überwinden und anzukommen. Ihr Freund konnte das verstehen. Weitere konkrete und kreative Lösungen wurden von beiden gemeinsam entwickelt.

Situation des Meditierenden

Ohne Focusing

Sibylle hat schon viele Meditationsseminare besucht. Sie braucht die Achtsamkeit in ihrem Leben. Sie sitzt stundenlang versunken. Zugleich bleibt ihr Alltag gleich – glücklicherweise hat sie die Meditation. Sie hilft ihr, den Stress im Alltag auszugleichen, und auch den Alltagssorgen zu entkommen. Sie hat sich im Sitzen daran gewöhnt, dass sie immer eine Art Band wie unter ihren Rippen spürt. Das geht nicht weg, aber es hindert sie nicht, zu meditieren.

Mit Focusing

Nach einer Stunde der Meditation macht Sibylle Focusing mit einem Kollegen. Sie wechselt damit den Modus der Aufmerksamkeit. Nun exploriert sie voller Neugierde, was sie beim Sitzen fühlt. Mit Freundlichkeit begegnet sie dem Band, dass sie unter den Rippen fühlt. Als erfahrene Meditierende fällt es ihr nicht schwer, mit wertfreier Aufmerksamkeit dieses Gefühl wahrzunehmen. Neu ist, es zu beschreiben, in Worten. Sie beschreibt die Beschaffenheit und Textur des Bandes. Während sie beschreibt, verändert es sich, nun ist es wie ein Stab, der von links nach rechts spürbar ist. Sie beschreibt weiter, – nun wird es zu einer Kugel in der Leisten-Gegend. Dieses „etwas“ reagiert auf die Beschreibung, und zwar sehr genau, ohne dass Sibylle das kontrollieren könnte. Nach einigen Focusing Sitzungen „öffnet“ sich das Gefühl auf einmal. Sibylle merkt, wie viel von der Beziehung zum Vater in diesem Gefühl steckt, und wie präzise das Gefühl so viele Aspekte der Beziehung zum Vater hält. Fast ist sie froh, wenn sich „all das“ wieder verwandelt, in das ziehende Band unter den Rippen. Aber nun macht sie in weiteren Focusing Sitzungen die Erfahrung, dass wenn sie beginnt zu beschreiben, was das „Band“ alles hält, weitere Prozesse freigesetzt werden, Gefühle hochsteigen, von denen sie gar nichts wusste. Dies verhilft ihr, sich und auch den Vater besser zu verstehen. Mit der Zeit schmilzt das Band unter den Rippen. Sie meint: „mir hat die Meditation im Focusing geholfen, und das Focusing in der Meditation – und beides zusammen verändert gerade spürbar meinen Alltag.“

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